Nachforderungsschreiben müssen eindeutig und vollständig sein!
Die Vergabekammer (VK) Westfalen hat mit Beschluss vom 21.12.2023 – VK 1-37/23 – u.a. folgendes entschieden:
1. Ergibt die Prüfung auf Vollständigkeit, dass Unterlagen fehlen oder unvollständig sind, können diese bis zum Ablauf einer vom Auftraggeber zu bestimmenden Nachfrist nachgefordert werden.
2. Im Anwendungsbereich der VgV besteht keine Verpflichtung zur Nachforderung. Die Nachforderung liegt im pflichtgemäßen Ermessen des Auftraggebers. Pflichtgemäßes Ermessen verlangt aber im Regelfall die Nachforderung. Das Absehen von einer Nachforderung stellt die Ausnahme dar.
3. Im Nachforderungsschreiben ist eindeutig und genau anzugeben, welche Unterlagen in welcher Frist nachzureichen sind.
4. Es ist vergaberechtswidrig, wenn sich der Auftraggeber für die Nachforderung fehlender bzw. unvollständiger leistungsbezogener Unterlagen entscheidet, dann aber nur einzelne Unterlagen nachfordert und den betreffenden Bieter in der Folge wegen fehlender Unterlagen ausschließt.
Ein öffentlicher Auftraggeber (AG) hatte die die Lieferung von Reparaturasphalt europaweit im offenen Verfahren ausgeschrieben. In der Leistungsbeschreibung war u.a. ausgeführt: "Die Hinweise für Reparaturasphalt zur Schadstellenbeseitigung, Ausgabe 2019" (H RepA) der FGSV bilden die Grundlage dieser Ausschreibung." Auch an weiteren Stellen der Leistungsbeschreibung nahm der AG ausdrücklich Bezug auf die H RepA. Bieter A gab ein Angebot ab, das nach Prüfung auf Rang 1 lag. Mit Schreiben vom 19.10.2023 forderte der AG von A die Herstellererklärung zum Reparaturasphalt 0/3, die Verarbeitungshinweise und die Angabe des GISCODES Reparaturasphalt der BG Bau bis 20.10.2023 als fehlende Unterlagen nach. Bieter A reichte die nachgeforderten Unterlagen fristgerecht ein. Darauf teilte der AG dem A gemäß § 134 GWB mit, dass er beabsichtige, diesem den Zuschlag nicht zu erteilen. Als Begründung führte er an, dass das Angebot des A ausgeschlossen worden sei, weil geforderte oder nachgeforderte Erklärungen und Nachweise fehlten. Er führte an, dass A die geforderten Materialeigenschaften der Reparaturasphalte in der Herstellererklärung nicht nachgewiesen habe. Nach erfolgloser Rüge beantragte Bieter A die Nachprüfung.
Die VK gibt Bieter A Recht. Der AG verstoße hier gegen § 57 Abs. 1 Nr. 2 VgV i.V. m. § 56 Abs. 2 Nr. 1 VgV, indem er das Angebot des A von der Wertung ausgeschlossen habe.
Von der Wertung ausgeschlossen würden Angebote von Unternehmen, die nicht den Erfordernissen des § 53 VgV genügten, insbesondere Angebote, die nicht die geforderten oder nachgeforderten Unterlagen enthielten, § 57 Abs. 1 Nr. 2 VgV. Die Angebote müssten vollständig sein und alle geforderten Angaben, Erklärungen und Preise enthalten, § 53 Abs. 7 S. 2 VgV. Nach § 56 Abs. 2 S. 1 VgV könne der öffentliche Auftraggeber den Bieter unter Einhaltung der Grundsätze von Transparenz und Gleichbehandlung auffordern, fehlende oder unvollständige leistungsbezogene Unterlagen nachzureichen oder zu vervollständigen. Dabei sei die Nachforderung von leistungsbezogenen Unterlagen, die die Wirtschaftlichkeitsbewertung der Angebote anhand der Zuschlagskriterien beträfen, grundsätzlich ausgeschlossen, vgl. § 56 Abs. 3 S. 1 VgV.
Fehlende oder unvollständige leistungsbezogene Unterlagen seien solche, die mit dem Angebot bis zur Angebotsabgabe einzureichen waren und physisch ganz oder teilweise nicht vorgelegt worden seien. Fehlenden leistungsbezogenen Unterlagen stünden solche gleich, die physisch vorgelegt worden seien, aber in formaler Hinsicht von den Anforderungen abwichen. Nachgereicht oder vervollständigt werden könnten z.B. leistungsbezogene Unterlagen, die für die Erfüllung der Kriterien der Leistungsbeschreibung vorzulegen seien, wenn sie nicht unter § 56 Abs. 3 S. 1 VgV fielen.
Ergebe folglich die Prüfung auf Vollständigkeit, dass Unterlagen fehlten oder unvollständig seien, könnten diese nach den Regelungen des § 56 Abs. 2 und 3 VgV bis zum Ablauf einer vom Auftraggeber zu bestimmenden Nachfrist nachgefordert werden. Im Gegensatz zur VOB/A bestehe zwar keine Verpflichtung des AG zur Nachforderung, doch bedeute "können", dass die Nachforderung im pflichtgemäßen Ermessen des Auftraggebers liege. Pflichtgemäßes Ermessen unter Berücksichtigung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit verlange aber im Regelfall die Nachforderung, um nicht ein ansonsten wirtschaftliches Angebot an einer Kleinigkeit scheitern zu lassen; das Absehen von einer Nachforderung stelle daher regelmäßig die Ausnahme dar. Wolle der Auftraggeber keine Unterlagen nachfordern, stehe ihm dafür der Weg des § 56 Abs. 2 S. 2 VgV offen. Im Nachforderungsschreiben sei eindeutig und genau anzugeben, welche Unterlagen in welcher Frist nachzureichen seien.
Mache der Auftraggeber von seinem Nachforderungsermessen Gebrauch, müsse es unter strikter Beachtung des in § 56 Abs. 2 S. 1 VgV ausdrücklich genannten Gleichbehandlungsgrundsatzes ausgeübt werden. Grundsätzlich seien alle fehlenden Unterlagen von allen Bietern nachzufordern. Dies gelte ausnahmsweise dann nicht, wenn ein unvollständiges Angebot bereits aus anderen Gründen, etwa mangels Wirtschaftlichkeit, keine Zuschlagschance habe. Indem hier der AG mit Mitteilung vom 19.10.2023 lediglich die Herstellererklärung zum Reparaturasphalt 0/3, die Verarbeitungshinweise und die Angabe des GISCODES Reparaturasphalt der BG Bau als fehlende Unterlagen von A nachgefordert habe und nicht diejenigen Unterlagen, deren Fehlen später nach Auffassung des AG den Ausschluss begründeten, habe er vergaberechtswidrig gehandelt. Vielmehr habe der AG mit der Nachforderung nur der Herstellererklärung zum Reparaturasphalt 0/3 vermittelt, dass die Herstellererklärungen zu den Reparaturasphalten 0/5 und 0/8 den Anforderungen entsprochen hätten und bei A einen falschen Eindruck hervorgerufen; A habe aufgrund der konkreten Nachforderung vielmehr davon ausgehen müssen, dass seine bereits eingereichten Unterlagen ansonsten vollständig gewesen seien.
Entscheide sich ein öffentlicher Auftraggeber von seinem Ermessen gemäß § 56 Abs. 2 S. 1 VgV Gebrauch zu machen, so müsse er dies ordnungsgemäß tun. Es stehe ihm nicht frei, sich zwar für die Nachforderung fehlender bzw. unvollständiger leistungsbezogener Unterlagen zu entscheiden, dann aber nur einzelne Unterlagen nachzufordern und den betreffenden Bieter in der Folge gemäß § 57 Abs. 1 Nr. 2 VgV auszuschließen. Insbesondere im Hinblick auf den Grundsatz der Transparenz gemäß § 97 Abs. 1 S. 1 GWB, § 56 Abs. 2 S. 1 VgV verstoße das Vorgehen des AG gegen das Vergaberecht. Dabei spiele es keine Rolle, ob ein solcher Verstoß wissentlich oder versehentlich erfolge.
Anmerkung:
Die Entscheidung spricht Fehler bei Nachforderungsschreiben an, die immer wieder gemacht werden. Egal, ob - wie hier - nach VgV oder gemäß EU-VOB/A (§ 16a): es ist strikt zu unterscheiden, ob es sich um unternehmensbezogene (Eignungs-) Unterlagen oder um leistungsbezogene (Angebots-) Unterlagen handelt, da beide unterschiedlich behandelt werden. Fordert dagegen der AG bestimmte Unterlagen nicht nach, darf der Bieter davon ausgehen, dass die von ihm bisher eingereichten Unterlagen vollständig sind.