Falsches Zertifikat fehlt nicht – keine Nachforderung!
Die Vergabekammer (VK) Bund hat mit Beschluss vom 28.03.2024 – VK 2-25/24 – u.a. folgendes entschieden:
1. Eine leistungsbezogene Unterlage fehlt, wenn sie entweder körperlich nicht vorhanden ist oder so schwere äußere Mängel aufweist, dass sie für den vorgesehenen Zweck unbrauchbar ist.
2. Eine Unterlage fehlt nicht und kann daher nicht nachgefordert werden, wenn sie körperlich vorhanden und auch vollständig ist, ihr Inhalt aber nicht den Erklärungs- oder Beweiswert hat, den er nach den Vorgaben des Auftraggebers haben sollte.
3. Legt der Bieter ein Zertifikat vor, das nicht auf der vom Auftraggeber geforderten, sondern auf einer anderen Grundlage ausgestellt worden ist, ist das eingereichte Zertifikat vollständig, so dass eine Nachforderung nicht in Betracht kommt.
Ein öffentlicher Auftraggeber (AG) hatte im Rahmen einer europaweiten Ausschreibung für Arbeiten an Straßen und Autobahnen die Bieter zum Eignungsnachweis aufgefordert, einen „Nachweis der Qualifikation gemäß MVAS 99 auf Grundlage der RSA 21 zu Arbeitsstellen von kürzerer und längerer Dauer an allen Straßen inkl. Autobahn“ vorzulegen. Im Rahmen der Angebotsaufklärung gem. § 15 EU Abs. 1 Nr. 1 VOB/A wurde u.a. der Bieter B aufgefordert, verschiedene Unterlagen vorzulegen, was dieser aber nur teilweise erfüllte. So war der von ihm vorgelegte Nachweis der Qualifikation gemäß MVAS 99 nicht auf der Grundlage der RSA 21 ausgestellt, sondern auf Basis der RSA 95. Der AG teilte dem B darauf folgendes mit: „In der Ausschreibung war unter Leistungsbezogene Unterlagen gefordert, dass ein MVAS-Nachweis auf Grundlage der RSA 21 einzureichen ist. Der von Ihnen eingereichte Nachweis erfüllt diese Voraussetzung nicht. Bitte schulen sie ihren Mitarbeiter kurzfristig und weisen uns das nach. Eine Anmeldebestätigung zu einem Schulungskurs reicht uns aus." Nachdem B dies nachgewiesen hatte, erteilte ihm der AG den Zuschlag, was Bieter A rügte und mit einem Nachprüfungsantrag angriff.
Die VK Bund gibt Bieter A Recht und schließt sich seiner Auffassung an, dass das Angebot des B zwingend hätte ausgeschlossen werden müssen. Die Bekanntmachung habe vorgesehen, dass Bieter die Qualifikation gemäß MVAS 99 auf der Grundlage der RSA 21 vorzulegen hatten. Das MVAS enthalte Informationen zur inhaltlichen und zeitlichen Gliederung von Schulungen. Mit der Teilnahme an einem MVAS-Seminar erhalte der Teilnehmer eine Bescheinigung bzw. ein Zertifikat, welches als Nachweis über die erforderlichen Fachkenntnisse zur Sicherung von Arbeitsstellen an Straßen diene.
Ausweislich des Formulars "Vorzulegende Unterlagen" war dieser Nachweis mit dem Angebot vorzulegen (Formular, Abschnitt 1 - Leistungsbezogene Unterlagen). Der von B vorgelegte Nachweis habe dieser Vorgabe nicht vollumfänglich entsprochen, weil er nicht auf der Grundlage der RSA 21, sondern auf der Grundlage der RSA 95 ergangen sei.
Zu der Aufforderung an B, nachträglich die Schulung – hier durch bloße Anmeldungs-bestätigung zu einem Schulungskurs – nachzuweisen, sei der AG nicht berechtigt gewesen.
Eine leistungsbezogene Unterlage fehle im Sinne des § 16a EU Abs. 1 Satz 1 VOB/A, wenn sie entweder körperlich nicht vorhanden sei oder so schwere äußere Mängel aufweise, dass sie für den vorgesehenen Zweck unbrauchbar sei. Eine Unterlage fehle jedoch nicht, wenn sie - wie hier - körperlich vorhanden und auch vollständig sei, ihr Inhalt aber nicht den Erklärungs- oder Beweiswert habe, den er nach den Vorgaben des Auftragnehmers haben sollte. So liege es hier. B habe ein MVAS-Zertifikat vorgelegt, das aber nicht auf Grundlage der RSA 21 ausgestellt worden sei, sondern auf Grundlage der RSA 95.
Auch ein Fall der "unvollständigen" Unterlage im Sinne des § 16a EU Abs. 1 Satz 1 VOB/A liege nicht vor. Eine Unterlage sei unvollständig, wenn sie nicht den physischen Umfang habe, den sie haben sollte. Im vorliegenden Fall sei das von B eingereichte Zertifikat aber vollständig gewesen. Daher komme eine Nachforderung nach § 16a EU Abs. 1 Satz 1 VOB/A nicht in Betracht.
Gleiches gelte für die Aufklärung nach § 15 Abs. 1 Nr. 1 EU VOB/A. Einem Bieter dürfe nicht die Änderung oder Ergänzung fehlender, zwingender Angebotsbestandteile ermöglicht werden, weil dadurch der Grundsatz der Gleichbehandlung der Bieter verletzt werde. Erst recht nicht dürfe ein Auftraggeber, wie hier geschehen, einem Bieter die Möglichkeit einräumen, nach Angebotsabgabe überhaupt erst die Voraussetzungen zu schaffen, um einen Nachweis zu erlangen, wie hier die Aufforderung, die Mitarbeiter zu schulen, um die Voraussetzungen für den Nachweis auf Grundlage der RSA 21 zu schaffen.
AG und B hätten hier vor der VK argumentiert, dass die Vorlage des MVAS-Zertifikats auf Grundlage der RSA 95 deshalb unschädlich sei, weil das von B eingereichte Teilnahmezertifikat grundsätzlich unbefristet gültig sei und daher auch heute noch die aktuellen Anforderungen der RSA 21 an den Verantwortlichen erfülle. Wie sich aus den bereits erwähnten Hinweisen "RSA 21 - Schulung nach MVAS" aber ergebe, seien die Vorgaben nach RSA 95 und RSA 21 inhaltlich nicht deckungsgleich. Eine wesentliche Neuerung der RSA sei das Erfordernis eines Schulungsnachweises nach MVAS, einer Anforderung, die bisher nur vertragsrechtlich relevant gewesen sei. Entscheidend sei aber, dass hier die Bieter die Vorgabe eines MVAS-Zertifikats auf Grundlage der RSA 21 akzeptiert hätten. Hätten sie die Frage der "Gleichwertigkeit" eines MVAS-Zertifikats auf Grundlage der RSA 95 bzw. RSA 21 im Rahmen einer Bieterfrage adressiert, hätte der AG sich erklären können, ob er dem zustimme; der AG hätte dann im Wege einer Änderungsbekanntmachung deutlich machen können, dass auch die RSA 95 als Basis für den Eignungsnachweis ausreiche. Die Herbeiführung einer solchen Klarstellung hätten die Bieter, insbesondere B, jedoch unterlassen, so dass sie sich im Ergebnis an der bekanntgemachten Vorgabe festhalten lassen müssten. Dies gebiete der Grundsatz der Gleichbehandlung der Bieter.
Anmerkung:
Die Entscheidung zeigt deutlich, wie ein Auftraggeber im Rahmen der Nachforderung gemäß § 16a EU VOB/A gerade nicht vorgehen sollte. Sein Hinweis, wie der Bieter bei der Überwindung von formalen Hindernissen am besten vorgehen sollte, erweist sich im Ergebnis als „Schuss ins eigene Knie“. Denn damit verstößt der AG eindeutig gegen das Gebot der Gleichbehandlung aller Bieter.
Daher sollte bei der Nachforderung von Nachweisen und Unterlagen sehr genau differenziert werden, ob eine geforderte Unterlage tatsächlich fehlt (Nachforderung!) oder mit einem falschen Inhalt bereits vorliegt (keine Nachforderung!).