Zur Aufhebung eines Vergabeverfahrens
Das OLG Düsseldorf hat mit Beschluss vom 09.08.2023 – Verg 3/23 – u.a. folgendes entschieden:
1. Soweit eine Ausschreibung aufgehoben werden kann, wenn die Vergabeunterlagen grundlegend geändert werden müssen, kann dieser Aufhebungsgrund nur auf Tatsachen gestützt werden, die erst nach Versendung der Verdingungsunterlagen eingetreten oder dem Auftraggeber bekannt geworden sind, ohne dass eine vorherige Unkenntnis auf mangelhafter Vorbereitung beruht.
2. Bei der Aufhebungsentscheidung ist die Heranziehung von Gründen, die dem Auftraggeber bekannt waren und/oder mit deren Vorliegen oder Eintritt er bei der Vergabeentscheidung rechnen musste, ausgeschlossen. Auch darf der öffentliche Auftraggeber den Aufhebungsgrund nicht selbst schuldhaft herbeigeführt haben.
Ein öffentlicher Auftraggeber (AG) hatte die Montage von Schutzplanken an einer Autobahn europaweit ausgeschrieben; einziges Zuschlagskriterium war der Preis. Sowohl in der Baubeschreibung als auch im LV wurde dafür das System Eco-Safe 2.0 und verschiedene Ausführungsformen des Systems Super-Rail Eco vorgegeben. Nach Ziffer 3.5 der Baubeschreibung waren nach DIN oder RAL zertifizierte Schutzplankenkonstruktionsteile zu liefern, für Schutzplankenteile anderer neuer Stahlsysteme sei die Gleichwertigkeit nachzuweisen. In der Aufforderung zur Angebotsabgabe war die Abgabe mehrerer Hauptangebote zugelassen. Bieter A reichte zwei Hauptangebote ein. Dabei bot er mit seinem Hauptangebot 2 die im LV genannten Systeme (Eco-Safe 2.0 und Super-Rail Eco) an; dieses Angebot lag nach der Wertung auf dem dritten Rang. Mit seinem Hauptangebot 1 bot er andere Schutzplankensysteme an; dieses lag in der Preiswertung auf dem ersten Rang. Darauf teilte der AG dem A mit, dass dieses Hauptangebot 1 auszuschließen sei, weil es von den Ausschreibungsunterlagen abweiche, es seien nicht die geforderten RAL-zertifizierten Systeme angeboten worden. Dies rügte A als vergaberechtswidrig. Der AG hob darauf die Ausschreibung nach § 17 Abs. 1 Nr. 2 VOB/A-EU mit der Begründung auf, die Vergabeunterlagen müssten grundlegend geändert werden. Sein Beschaffungsinteresse sei in den Ausschreibungsunterlagen nicht korrekt abgebildet, Baubeschreibung und LV seien daher anzupassen. In der daraufhin erneuten EU-weiten Bekanntmachung wurden in Baubeschreibung und LV keine konkreten Produkte mehr gefordert, sondern lediglich produktneutrale technische Vorgaben gemacht. Zudem wurde als weitere Bedingung eingeführt, dass die angebotenen Produkte von mindestens drei Herstellern produziert würden. Nach Zurückweisung seiner Rüge beantragte A bei der VK erfolglos die Aufhebung der Aufhebung, hilfsweise die Feststellung der Rechtswidrigkeit der Aufhebung. Beides verfolgte er mit Beschwerde zum OLG weiter.
Das OLG gibt Bieter A Recht. Die Aufhebung der Ausschreibung sei vergaberechtswidrig; ein Aufhebungsgrund nach § 17 VOB/A-EU habe zum Zeitpunkt der Aufhebung nicht vorgelegen. Das Hauptangebot 1 des A sei jedenfalls nicht ohne Weiteres nach § 16 Nr. 2 i. V. m. § 13 Abs. 1 Nr. 5 Satz 2 VOB/A-EU wegen Abweichung von den Ausschreibungsunterlagen auszuschließen. Denn eine andere Systeme ausschließende Forderung konkreter RAL-zertifizierter Systeme sei den Vergabeunterlagen nicht, zumindest nicht mit der erforderlichen Eindeutigkeit, zu entnehmen.
Soweit sich der AG auf § 17 Abs. 1 Nr. 2 VOB/A-EU berufe, wonach die Ausschreibung aufgehoben werden könne, wenn die Vergabeunterlagen grundlegend geändert werden müssten, könne dieser Aufhebungsgrund nur auf Tatsachen gestützt werden, die erst nach Versendung der Verdingungsunterlagen eingetreten oder dem Auftraggeber bekannt geworden seien, ohne dass eine vorherige Unkenntnis auf mangelhafter Vorbereitung beruhe.
Dies folge vor allem aus dem in § 2 Abs. 6 VOB/A-EU genannten Grundsatz, wonach der Auftraggeber erst dann ausschreiben solle, wenn alle Vergabeunterlagen fertig gestellt seien und wenn innerhalb der angegebenen Fristen mit der Ausführung begonnen werden könne. Die Aufhebungsgründe der VOB/A nach § 17 VOB/A bzw. § 17 VOB/A-EU könnten zum Schutz des von den Bietern entgegengebrachten Vertrauens, eine realistische Chance auf den Zuschlag und auf Amortisation ihrer Aufwendungen für ein sorgfältig ausgearbeitetes Angebot zu haben, nur eingreifen, wenn sie erst nach Beginn der Ausschreibung eingetreten seien oder dem Auftraggeber vorher nicht bekannt sein konnten. Bei der Aufhebungsentscheidung sei die Heranziehung von Gründen, die dem Auftraggeber bekannt waren und/oder mit deren Vorliegen oder Eintritt er bei der Vergabeentscheidung habe rechnen müssen, ausgeschlossen (OLG Düsseldorf v. 26. 06. 2013 - Verg 2/13). Auch dürfe der öffentliche Auftraggeber den Aufhebungsgrund nicht selbst schuldhaft herbeigeführt haben; denn die beteiligten Interessen würden nicht angemessen berücksichtigt, wenn der Verursacher von den Folgen seines eigenen Handelns freigestellt und diese den Bietern aufgebürdet würden (BGH v. 20. 03. 2014, X ZB 18/13).
Vorliegend stütze sich der vom AG angeführte Aufhebungsgrund des § 17 Abs. 1 Nr. 2 VOB/A-EU jedoch nicht auf Tatsachen, die erst nach Versendung der Verdingungsunterlagen eingetreten oder dem Auftraggeber bekannt geworden seien, ohne dass eine vorherige Unkenntnis auf mangelhafter Vorbereitung beruhte.
Zudem habe der AG mit der Fassung der Ziffer 3.5 der Baubeschreibung in Verbindung mit der expliziten Zulassung mehrerer Hauptangebote in der Aufforderung zur Angebotsabgabe selbst die Grundlagen für ein mögliches dahingehendes Bieterverständnis gelegt, dass jedenfalls neben einem Hauptangebot mit den geforderten RAL-zertifizierten Systemen weitere Hauptangebote mit anderen Systemen zulässig seien, soweit diese den RAL-zertifizierten Systemen hinsichtlich ihrer technischen Spezifikationen gleichwertig seien, an dem er sich ausweislich der Aufhebung der Ausschreibung nicht festhalten lassen wolle. Insoweit könne auf die vorstehenden Ausführungen zum Fehlen eines Ausschlussgrundes nach § 16 Nr. 2 i. V. m. § 13 Abs. 1 Nr. 5 Satz 2 VOB/A-EU verwiesen werden. Ein solches - in seinen Augen - Fehlverständnis sei auch erkennbar gewesen und hätte bei gebotener Vorbereitung vermieden werden können. Damit habe der AG zugleich das ebenfalls vorhersehbare Problem geschaffen, möglicherweise Produkte nur eines Herstellers angeboten zu bekommen.
Anmerkung:
Die Entscheidung zeigt, dass der AG bei der Verfahrensaufhebung wegen Änderung der Vergabeunterlagen gem. § 17 EU Abs. 1 Nr. 2 VOB/A vorsichtig zu sein hat. So darf er die Aufhebungsgründe nicht selbst schuldhaft herbeigeführt haben, ebenso wenig kann er sich auf Tatsachen berufen, die ihm bereits vor Versendung der Vergabeunterlagen bekannt waren oder sein mussten.
Wenn die Voraussetzungen des § 17 EU VOB/A aber nicht vorliegen, ist die Aufhebung an sich zwar wirksam, jedoch haben die Bieter in diesem Fall grundsätzlich einen Anspruch auf Schadensersatz gegen den Auftraggeber.