Wie viel Spielraum haben öffentliche Auftraggeber bei der Identifizierung und Prüfung ungewöhnlich niedriger Angebote?
Dieser Artikel wurde aus unserem Magazin SUPPLY entnommen.
Strategie durch Niedrigpreise und Nachträge
Durch äußerst niedrige Preise eine Ausschreibung für sich entscheiden und dann über Nachträge die Kosten für den öffentlichen Auftraggeber erheblich in die Höhe treiben – diese durchaus gängige Praxis bei öffentlichen Ausschreibungen dürfte durch die aktuelle nationale und europäische Rechtsprechung an Attraktivität für die Bieter verlieren. Nach dem richtungsweisenden Urteil des BGH Anfang 2017 (BGH, Beschluss vom 31.1.2017 – X ZB 10/16) hat nun auch der EuGH in seiner Entscheidung vom 19.10.2017 (C-198/16 P, Agriconsulting Europe SA/Kommission) die Möglichkeiten für öffentliche Auftraggeber konkretisiert, ungewöhnlich niedrige Angebote auszuschließen. Beide Entscheidungen führen dazu, dass öffentlichen Auftraggebern der Ausschluss von ungewöhnlich niedrigen Angeboten erleichtert wird.
Schutz durch Vorgaben zu ungewöhnlich niedrigen Angeboten
Der BGH hatte bereits Anfang des letzten Jahres die langjährige Diskussion um die Frage beendet, ob die Vorschriften zu ungewöhnlich niedrigen Angeboten drittschützend sind. Zuvor wurde einem Bieter nur dann eine entsprechende Antragsbefugnis zuerkannt, wenn dem betreffenden Konkurrenten eine Marktverdrängungsabsicht nachzuweisen war und/oder die Gefahr bestand, dass der Auftrag infolge des angebotenen ungewöhnlich niedrigen Preises nicht ordnungsgemäß ausgeführt werden würde. Der BGH hat in seiner Entscheidung klargestellt, dass Bieter unabhängig von den vorgenannten Voraussetzungen auf der Grundlage der §§ 60 VgV, 16 d EU VOB/A, 54 SektVO und 33 VSVgV einen Anspruch darauf haben, dass der öffentliche Auftraggeber ungewöhnlich niedrige Preise anderer Bieter überprüft.
Ermessensspielraum beim Zuschlag
Zudem kann dem Wettbewerbsgrundsatz nach der Entscheidung des BGH nur dann Genüge getan werden, wenn dem öffentlichen Auftraggeber nicht die Möglichkeit offenstehe, ein Angebot trotz verbleibender Ungewissheiten hinsichtlich des Preises zu bezuschlagen. Die Formulierung in § 60 Abs. 3 VgV, dass er den Zuschlag ablehnen „darf“, wenn er die geringe Höhe des angebotenen Preises oder der angebotenen Kosten nicht zufriedenstellend aufklären kann, sei dementsprechend als gebundene Ermessensentscheidung anzusehen: Das Angebot muss in diesem Fall ausgeschlossen werden.
Offene Fragen zum Prüfungsmaßstab
Nicht entschieden hat der BGH seinerzeit die Frage, ab welchem Abstand zum zweitgünstigsten Angebot von einem ungewöhnlich niedrigen Angebot auszugehen ist. Er hat insbesondere offengelassen, ob ein Abstand von 20 Prozent die entscheidende Untergrenze darstellt, oder ob auch bei geringeren Abständen zwischen den Angeboten Aufklärungsbedarf bestehen kann. In dieser Hinsicht bringt der Beschluss des EuGH vom 19.10.2017 zusätzliche Flexibilität für öffentliche Auftraggeber.
Praxisbeispiel: Vergleich mit der Kostenschätzung
Der Entscheidung des EuGH lag ein Fall zugrunde, in dem der öffentliche Auftraggeber als Maßstab für die Prüfung eines ungewöhnlich niedrigen Angebots nicht den Abstand zu anderen Angeboten, sondern die eigene Kostenschätzung für das Projekt zugrunde gelegt und das Angebot auf dieser Basis als ungewöhnlich niedrig ausgeschlossen hatte. Während der öffentliche Auftraggeber der Ausschreibung eine Kostenschätzung in Höhe von 2,5 Mio. EUR/ Jahr zugrunde gelegt hatte, betrug das Preisangebot des günstigsten Bieters nur 1,3 Mio. EUR. Der Bewertungsausschuss identifizierte das Angebot als potenziell ungewöhnlich niedrig, indem er den angebotenen Preis mit dem vorgesehenen Gesamtbudget verglich und forderte zusätzliche Angaben zu dem angebotenen Preis an. Nach Prüfung der vorgelegten Erläuterungen schloss er das Angebot aus.
EuGH-Beschluss schafft Flexibilität für Auftraggeber
Der EuGH hat dieses Vorgehen ausdrücklich als zulässig anerkannt. Zwar sei ein öffentlicher Auftraggeber verpflichtet, zu prüfen, ob ein ungewöhnlich niedriges Angebot vorliegt. Mangels Begriffsdefinition oder Regeln zur Identifizierung eines solchen Angebots sei es jedoch Sache des Auftraggebers, die für die Identifizierung eines ungewöhnlich niedrigen Angebots verwendete Methode festzulegen. Entscheidend sei lediglich, dass diese Methode sachlich und nichtdiskriminierend sei. Dementsprechend stehe es einem öffentlichen Auftraggeber auch frei, die Angebotspreise mit dem von ihm selbst vorgesehenen Budget zu vergleichen.
Fazit
Im Ergebnis erkennt die Rechtsprechung öffentlichen Auftraggebern somit mehr Spielraum bei der Beurteilung der Frage zu, ob ein ungewöhnlich niedriges Angebot vorliegt, da sie den Prüfungsmaßstab selbst definieren können. Bleiben trotz Aufklärung Unklarheiten hinsichtlich der Preiskalkulation des betroffenen Bieters bestehen, reduziert sich das Ermessen des Auftraggebers jedoch: Das Angebot muss entgegen des Wortlauts von § 60 Abs. 3 VgV ausgeschlossen werden.